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Oliver Wieters | Autor | Hamburg

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Warmer Tod und kaltes Leben? Der Kulturwissenschaftler Utz Jeggle sprach über „Sterben in der traditionalen Welt“ (1989)

Posted on 16. März 20107. Oktober 2014 by admin

Von Oliver Wieters

„Memento mori“ – den Tod zu bedenken – war Utz Jeggle, Professor für Empirische Kulturwissenschaften am Ludwig-Uhland-Institut, in den Haspelturm des Tübinger Schlosses gekommen, wo er vor rund 50 Interessierten über das Thema „Sterben in der traditionalen Welt“ referierte. Jeggle bezeichnete seinen Vortrag als einen Versuch, „unsere eigene Sterblichkeit ein wenig besser akzeptieren zu können“. Der Vortrag fand im Rahmen der Ausstellung „Von den letzten Dingen. Tod und Trauer auf dem Land“ statt, die noch bis zum 3. Dezember 1989 im Haspelturm zu sehen ist.

Es konnte niemanden verwundert haben: Auch in der Vergangenheit „war der Tod genauso tödlich“ wie heute und die Kunst des Sterbens und des Trauerns ein ebenso schwieriges Geschäft. Aber in jener vergangenen Zeit, die Utz Jeggle modellhaft als die „traditionale Welt“ bezeichnete, existierte noch eine Reihe institutioneller Absicherungen, die „das Sterben in das diesseitige Leben integrierten“. Die Spannung zwischen traditionaler und moderner Welt sei nicht auflösbar, was vergangen ist, sei für unsere Lebensentwürfe nicht mehr praktikabel. Aber wir könnten sehen, wie es andere Gesellschaften mit dem Sterben hielten: „Vielleicht hilft es uns, unsere eigene Sterblichkeit ein wenig besser akzeptieren zu können.“

Das Eingebundensein des Menschen in den Rhythmus von Werden und Vergehen machte den Tod zur öffentlichen Sache, die Vorbereitung auf das Sterben ging einher mit der Angst, verlassen zu sterben. Sterbezimmer waren Orte öffentlicher – nicht wie heute rein privater – Anteilnahme: „Da wurde es in der Kammer oft so voll, dass auch schon mal die Zimmerdecke durchbrach oder der Sterbende vor lauter Neuigkeiten ganz in Vergessenheit geriet.“ Der Tod betraf alle, auch die Nachbarn und die ganze Dorfgemeinde. Sogar Tieren wurde der Tod eines Menschen angekündigt: „Die Bienenstöcke wurden verrückt, den Kühen erzählte man, jetzt ist dein Meister gestorben, damit sollte Unglück im Stall und ein störrisches Wesen der Tiere verhindert werden.“

Diese Rituale, heute als Ausdruck einer unechten Gefühlswelt verpönt, entlasteten den Trauernden, indem sie ihm das Eingebundensein des Todes (und der Trauer) in einen höheren Gang der Dinge nahebrachten. Aber das Sterben blieb dennoch eine Pein, Angst und Schrecken vor dem Tod suchten Entlastung in vielgestaltigen Versuchen, ihn zu überlisten, zu leugnen oder in anderer Weise nicht wahrhaben zu wollen. Erst die Aufklärung räumte mit den abergläubischen Vorstellungen vom Sterben auf: An die Stelle traditioneller Bilder vom Sterben trat die Vorstellung vom „natürlichen“ oder „angstfreien“ Tod. Der Preis war, „dass die Wissenschaft auch nicht mehr fähig war, Trost zu spenden und damit etwas zum Verständnis des Todes beizutragen“. Der Tod, zu einem rein physikalisch beschreibbaren Vorgang degradiert, wurde in „einfache, nützliche Gleichungen“ aufgelöst. Der Tod schien nicht mehr an das Lebensschicksal gebunden zu sein und geistert „befreit von den Fesseln der Vorstellungen und Bilder durch alle möglichen Krankheiten, Phantasien und Träume“.

Die Toten emanzipierten sich von den Lebenden, während sie in der traditionalen Gesellschaft eine Art Eigenleben führten, aus dem heraus sie das Sein der Lebenden mitbestimmten: Die Toten hüteten Moral und Gesetz und hatten sogar eigene Ansprüche. Häufig war der Kontakt zu den Toten so überwältigend, „dass den Lebenden kein Raum für neue Entscheidungen“ mehr blieb. Wirkliche Trauerarbeit im Sinne allmählicher Ablösung vom verlorenen Objekt war häufig schwer möglich.

In der modernen Welt wurde die Angst vor dem Tod unfasslicher und dadurch das Sterben unheimlicher: Seitdem die symbolischen Bilder des Todes ärmer wurden, sei die Überwindbarkeit des Todes trotz aller medizinischen Anstrengungen eine blanke Illusion geblieben. „Nicht mehr Fülle des Lebens, sondern Länge des Lebens wurde bestimmend.“ Aber Jeggle warnt vor einer Idealisierung der traditionalen Gesellschaft: Im Regelfall sollte ein „warmer Tod ein kaltes Leben bedecken“.

Die traditionale Gesellschaft mit ihren Riten und Kulten biete nichts, das für unsere heutigen Lebensentwürfe noch praktizierbar würde: „Wir können nur denkend innehalten, indem wir sehen, wie es andere mit dem Sterben hielten, vielleicht hilft es uns, unsere eigene Sterblichkeit ein wenig besser akzeptieren zu können.“

Prof. Utz Jeggle ist am 18.09.2009 in Tübingen gestorben. http://de.wikipedia.org/wiki/Utz_Jeggle

Artikel über Vortrag Utz Jeggle

Auswahl

  • Literatur
    • Übersetzung eines Fachtextes: Time as the Temporalization of a Promising Future in Schelling’s Positive Philosophy
    • Thomas Sparrs „Todesfuge. Biographie eines Gedichts“ (2020)
    • Paul Celans Gedicht zwischen Hermetik und Offenheit (Neufassung 2020)
    • Übersetzung eines Fachtextes: Die Zeit als freies Dasein der Wirklichkeit in Hegels Phänomenologie des Geistes
    • Oliver Wieters: Lehrauftrag Paul Celan
    • Eva Illouz: Der Macht die Wahrheit sagen (2015)
    • Der Traum vom Schweigen. Paul Celans frühe Arbeit (1948) über den surrealistischen Maler Edgar Jené
    • Oliver Wieters, Lehrauftrag Elias Canettis “Aufzeichnungen” und die aphoristische Tradition
    • Ian McEwan – Mut zum Pessimismus. Ein Porträt des britischen Schriftstellers (2002)
    • Cool Britannia. Ian McEwans glänzende Gesellschaftssatire “Amsterdam” (1999)
    • Ein bombensicherer Charakterpanzer: Liaty Pisanis packender Polit-Thriller „Die Nacht der Macht“ (2002)
    • Der Traum als literarische Form: Franz Fühmanns Traum-Erzählungen und -Notate (1990)
    • Oliver Wieters, Essays von Doron Rabinovici über Leo Perutz und Elias Canetti (1998)
    • Chaos als Normalzustand. Martin Cruz Smith Krimi “Die Goldene Meile” (2011, Neufassung 2015)
    • Oliver Wieters, Gutachten zu Reuven Kritz, Denkanstöße. Israelische Miniessays
  • Geschichte
    • Rezension von Karl Hammer: Der deutsche Protestantismus und der Erste Weltkrieg (1989)
    • Wege von der erlebten zur erzählten Geschichte: Drei neue Bücher der Körber-Stiftung. Sammelrezension für “Der Archivar” (2000)
    • Katholizismus und Zentrumstradition in Nordrhein-Westfalen 1945-1949 (Teil 1)
    • Katholizismus und Zentrumstradition in Nordrhein-Westfalen 1945-1949 (Teil 2)
    • Katholizismus und Zentrumstradition in Nordrhein-Westfalen 1945-1949 (Teil 3)
    • Oliver Wieters, Votum zu Paula E. Hyman, Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Woman (1998)
    • Dominick LaCapra, „History and Memory after Auschwitz“ (1998)
    • Warmer Tod und kaltes Leben? Der Kulturwissenschaftler Utz Jeggle sprach über „Sterben in der traditionalen Welt” (1989)
  • “Wo bitte gehts zum Gletscher?” Mit 28 Hundestärken durch die Schweizer Alpen
  • Ein “blinder Engel” mit Stacheln: Sabriye Tenberkens Abenteuer auf dem Dach der Welt (2000)
  • Erlebnis, Gedächtnis, Sinn. Notizen zu einem Symposion der Evangelischen Akademie Arnoldshain (1994)
  • Gutachten zu David Biale, “Eros and the Jews” (1997)
  • Das Paradox der Modernisierung: Rezension von Hans van der Loo und Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox (1992)
  • Rosa, Simone und die anderen: Reiner Wimmers Buch über Rosa Luxemburg, Simone Weil, Edith Stein und Hannah Arendt (Rezension 1990)
  • Lass uns miteinander reden: Letzte Chance Paartherapie? (2004)
  • Chronische Schmerzen bei Kindern: Die ‘Delfin-Kids’ brachten die Rettung
  • Diverses
    • Schweigen ist Gold
    • Die Wende. Erzählung
    • “Salaud!” Eine Kurzgeschichte von Oliver Wieters
    • Count Kronburg in Hamburg
    • Comb over!
    • Das Tierchen (2019)
    • Adam Thayers Sonntagsbrötchen
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