Ein Reisebild von Oliver Wieters
„Das Reisen führt uns zu uns zurück.“
Albert Camus
Venedig
Mehr noch als eine Totenstadt, als die sie spätestens seit Thomas Mann durch die europäische Literatur geistert, erschien mir Venedig als eine Irrenstadt. Besonders im Sommer, wenn einem der Schweiß in den engen Gassen entlang der Lagunen über die Haut rinnt. Es war unglaublich heiß als ich an einem späten Septembertag ankam. Im Bahnhof, den ich zu Fuß über mehrere Brücken erreichte, schwitzten einige amerikanische Studenten vor sich hin, vor den wenigen Kartenmaschinen fluchten die Touristen. Kein Geschäft oder Schalter in der Station hatte noch geöffnet. In den Ecken stank es säuerlich nach Urin und Undefinierbarem. Nur die Gepäckaufbewahrung hatte noch geöffnet. Ich entledigte mich meines Rucksacks in der muffigen Gepäckaufbewahrung und nutzte die Wartezeit für einen kurzen Spaziergang durch die Stadt, die ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr betreten hatte. Ein hektisches Treiben. Man hört hier mehr amerikanische Laute und noch mehr russische als Italienische. Irgendwie hat man das Gefühl, dass gleich irgendwas Schlimmes passiert, und dass das niemanden interessiert. Ich fand schon früher als Kind Venedig ebenso schön wie bedrohlich, besonders in der Nacht. Vielleicht weil alles ebenso schön wie verschlissen ist. Ich habe mich in ein Internet-Cafe geflüchtet, wo ich erstmal meine ID angeben mußte, “wegen der Terroristen”, wie es heißt. Bald geht es weiter per Zug nach Trieste – eine andere Stadt, dem Verfall anheimgegeben und darum so betörend. Ich sehe die Stadt jetzt mit anderen Augen. Nicht nur ich, sondern auch meine Leseerfahrung hatte sich geändert. Dazwischen lagen unter anderem die Kenntnis von Italo Svevos „Sentimentaler Reise“, Patricia Highsmiths „Talented Mr. Ripley“ und Ian McEwans „Trost von Fremden“, dessen Lektüre mich nachhaltig beeindruckt hat (wahrend mich die Verfilmung mit Christopher Walken eher kalt ließ, was nicht an dem brillanten Schauspieler Walken lag). Beinahe war ich enttäuscht, daß noch kein geheimnisvolles Paar unauffällig sein Objektiv auf mich gerichtet hatte, um mich Tage später in ihren Palast zu sperren. Mein Geld trug ich dennoch etwas fester an meinem Gürtel als ich durch die dunklen Gassen schlenderte, die mich – so hoffte ich – in die Nähe des Minotaurus führten, der irgendwo in der Mitte dieser dämonischen Lagunenstadt hausen mußte. Leider mußte ich zurück zur Bahn. Um elf Uhr ging mein Zug nach Triest ab, vorbei an Miramare, dem Schloß einer anderen legendären Gestalt, nämlich Erzherzog Maximilian von Österreich, der 1967 als Kaiser von Mexiko erschossen wurde. Wer kennt es nicht, das berühmte Gemälde von Édouard Manet? Bei der Ausschiffung seines Sarges am Anlegesteg von Schloss Miramare wurde sein Lieblingslied gespielt, La Paloma. Und natürlich vorbei am Dorf Duino, Namensgeber der Duineser Elegien von Rilke.
Kennen Sie schon Triest?
„Von Stettin an der Ostsee bis Triest
am Mittelmeer hat sich ein
Eiserner Vorhang auf Europa herabgesenkt.“
Winston Churchill
Als ich gestern um 2 Uhr nachts in Triest angekommen bin, war es immer noch stickig heiß, um die 25 Grad. Kaum war ich halbwegs eingeschlafen, schlug draußen auf der Straße eine Alarmanlage an und rasselte bis in die frühen Morgenstunden. Zugleich fiel – wie in einem großen Teil Italiens, wie ich später erfuhr – der Strom aus und ich musste im Dunkeln in meinem Rucksack nach einer Taschenlampe suchen, um den Weg zum stillen Örtchen zu finden. Stunden später kam endlich die Gendarmerie und stellte die Sirene ab.
Am nächsten Morgen machte ich mich etwas gerädert früh und ohne Frühstück auf den Weg, um die Stadt zu erkunden. Mein erster Weg führte mich hinauf zur Festung San Giusto, um mir einen Überblick zu verschaffen.
Man findet sich in Triest schnell zurecht: Am Meer die Hafenbecken mit den Molen und dem Kongresszentrum, der „Palazzo“ genannt. Davor der prächtige Platz der Einheit, der stolze Mittelpunkt der Stadt. Hier findet auch der Markt statt, von dem sich auch der alte Name der Stadt, Tergeste ableitet. Die großen Gebäude ringsherum verströmen den delikaten Glanz der späten Habsburger-Monarchie und lassen Triest auf den ersten Blick größer erscheinen als sie ist.
Von hieraus gelangt man schnell in das Theresianische Viertel, das schachbrettartig im Bereich der trockengelegten Salinen angelegt wurde, und in das alte Ghetto, in dem sich heute hauptsächlich exklusive Boutiquen einquartiert haben. Als mich die Müdigkeit überfiel, ging ich zurück in mein Hotel in der Vita d’Artisti und legte mich schlafen. Leider widmete sich im Nachbargebäude ein Orchestra seinen Etüden und so musste ich mir etwas in die Ohren stopfen, um ein bisschen Ruhe zu finden. Als ich zwei Stunden später aufwachte, hatte sich das Wetter komplett gedreht. Es regnete. Dankbar für die unerwartete Abkühlung machte ich mich auf den Weg zum berühmten „Caffè San Marco“. Auf diesen Besuch hatte ich mich schon seit Jahren gefreut: Das Café ist für Triest mindestens so bedeutend wie das „Deux Margots“ für Paris: Hier war der Treffpunkt der intellektuellen Szene, die vor und während des ersten Weltkriegs das geistige Leben Triests beherrschte. Allen voran Hector Aron Schmitz, genannt Italo Svevo, der italienische Schwabe, Autor des berühmten Romans „La coscienza di Zeno“ („Zenos Bewußtsein“ oder „Zenos Gewissen“) und sein damaliger Englisch-Lehrer, James Joyce. Auch heute noch ist das Café ein Anziehungspunkt für Intellektuelle aus der ganzen Welt: Zum Beispiel für Veit Heinichen, den ehemaligen Spiegelmitarbeiter, der seine Krimis um den italienischen Kommissar Proteo Laurenti in seiner Wahlheimat Triest angesiedelt hat.
Kennen Sie schon Triest? Triest ist keine Stadt wie irgendeine andere. Joyce, Svevo, Saba, Winkelmann (der hier ermordet wurde) waren hier. Erinnerung an vergangene Größe, ein wenig habsburgisch, ein wenig italienisch, slowenisch, griechisch, kroatisch, jüdisch … Schöne Cafés, interessante Menschen. Dann der Karst, diese Landschaft, wie von der Faust eines Riesen zerschlagen. Die hätte mich übrigens fast in Slowenien erwischt als ich nachts in einen Sturm geraten bin und der Himmel die Seile am Klettersteig als Blitzableiter mißbrauchte. Danach weiß man erst, dass man lebt…
Triest ist der Zeit etwas hinterher, auch was die Verbreitung des Internets betrifft. Ich muss immer erst ins Zentrum gehen, um eine E-Mail zu schreiben. Auch kulturell erwacht Triest erst langsam aus dem Dornröschenschlaf, in dem es sich seit dem Zweiten Weltkrieg und der späteren Gründung Yugoslawiens befunden hat. Noch ist es allgegenwärtig: Jenes Gefühl, dass man einen Logenplatz vor dem eisernen Vorhang hat, der sich nach den Worten Winston Churchills „von Stettin an der Ostsee bis Triest am Mittelmeer auf Europa herabgesenkt“ hatte und bis heute seine trennende Wirkung zeigt. Der internationale Tourismus ist hier noch kaum ausgeprägt. Das sieht man zum Beispiel daran, dass 4 es hier bis kürzlich kein McDonalds gibt (ein beinahe untrügliches Zeichen für die Invasion von Touristen). Nachdem sich die Bora Nera verzogen hat, scheint heute wieder die Sonne. Ein prächtiger Tag. Die Kaffees sind bevölkert, die Quallen schwimmen fröhlich gegen die Kaimaür und die Italiener tün das, was auch ich am liebsten tü, nämlich gar nichts. Das macht sie mir so sympathisch.
Ich war heute im städtischen Aquarium, wo es niedliche Pinguine und exotische Fische zu bestaunen gibt. Auch konnte ich ein paar Lurche streicheln und durfte einen Frosch spazieren führen. Beide sprachen kein Englisch, was sie mit den meisten Einwohnern von Triest gemein haben. Heute kam ich an einer Buchhandlung vorbei, die “In der Tat” heißt. Der Buchhändler, der passabel Englisch sprach und einen Leninbart trug, klärte mich auf, dass der Name von Hegel stammt. Die Worte „in der Tat“ waren aber leider schon fast alles Deutsche, was er beherrschte oder was in geschriebener Form vorlag. Das Triest der Gegenwart ist eine durch und durch an Italien ausgerichtete Stadt ungeachtet seiner multikulturellen Vergangenheit. Darüber kann auch die prächtige Habsburger Fassade nicht hinwegtäuschen. Die Vergangenheit ist zwar allgegenwärtig, auch in der überwiegend älteren Bevölkerung, aber man ist italienisch, nicht deutsch. Die großen Namen, Joyce, Svevo, Winkelmann (der hier ermordet wurde) sind zwar nicht aus dem Bewusstsein verschwunden, aber nur wenig weist auf dieses große Erbe hin. Selbst an Winkelmanns Epitaph, oben im Lapidarium, eine Sammlung antiker Steine, ist nur in Italienisch gehalten. Auch Hinweise auf Svevo oder auf Joyce sind nur wenige zu finden. Die Triestiner wissen allerdings Bescheid, nur dass sie aus Mangel an Fremdsprachenbeherrschung nicht in der Lage sind, ihr Wissen den Fremden mitzuteilen.
Heute habe ich durch reinen Zufall in der Nähe des ehemaligen Ghettos in der Altstadt, das sich teilweise noch heute in einem beklagenswerten Zustand befindet und erst langsam mit europäischen Geldern restauriert wird, das James Joyce Hotel gefunden. Es wurde gerade eröffnet und bietet nette Zimmer zu vernünftigen Preisen an. Auf meiner Rückreise werde ich dort übernachten und einen Fisch bei der “Mamma” des Patrones verspeisen. Morgen fahre ich nach Slowenien weiter.
Es ist gar nicht so einfach, von Triest nach Bled zu reisen. Der Grund ist, dass die kürzeste Strecke über Goriza und Nova Goricia führt. Aber während sich Goriza in Italien befindet, gehört der ehemalige Stadtteil Nova Goricia seit 1991 zu Slowenien, vorher war es Yugoslawien. Normalen Reisenden müssen einen Grenzübergang verwenden, der sich südlich der Stadt befindet und einen längeren Umweg erfordert. So kann auch einer Strecke von wenigen hundert Kilometern leicht eine Reise von sechs, sieben Stunden werden, weil man besser über Llubljana, dem ehemaligen Laibach und der Hauptstadt Slowenien reist. Wie auch immer, heute habe ich einen Lurch gestreichelt, morgen ein paar Murmeltiere. Aber davon werde ich ein andermal erzählen.
Fine
Eine Übersetzung ins Italienische findet sich unter http://www.forumer.it/trieste-post-20942.html “Trieste da Impressioni durante un viaggio autunnale in Slovenia” (2003)”