Von Oliver Wieters
Geschrieben im Kibbuz Sdot-Yam
Eingenistet in einen Hügel, etwas höher als die Stadt selbst liegt das SOS-Kinderdorf Bethlehem. Es überblickt weit das sich vor ihm ausbreitende Dorf und die spärlich bebauten Anhöhen – traditionelles Hirtenland. Um die kleine Freistätte herum ist eine mannshohe Betonmauer gezogen, auf der unübersehbar groß der Schriftzug „SOS-Children’s Village“ prangt, daneben ein buntes Gemälde aus Kinderhand, das Schafe und einen Schäfer – eine heile Welt – zeigt.
Dem Besucher fällt sofort die ausgesprochene Sauberkeit und Ordentlichkeit des Dorfes auf. Obwohl die Anlage schon über 20 Jahre alt ist – sie wurde kurz vor Beginn der israelischen Okkupation des West-Jordanlandes eingerichtet -‚ wirken Häuser und Wege wie erst seit kurzer Zeit benutzt.
Vor einem der hellen Gebäude, das den mit lateinischen Buchstaben geschrieben Namen „Dar El Bulbul“, Haus der Nachtigall, trägt, sitzt eine Gruppe 5-8 Jähriger Jungen und Mädchen und spielt ein Legespiel, auf dessen Kasten in vertrauter blau-weißer Farbe „Ravensburger“ steht.
Das Haupthaus trägt den Namen von Hermann Gmeiner, dem 1986 verstorbenen Initiator der SOS-Kinderdörfer. Hier empfängt uns Frau Adelheid Totz, die aus Deutschland stammende Leiterin des hiesigen Dorfes und begrüßt uns herzlich.
Frau Tutz ist die „Mutter“ von 6 Kindern, von denen etwa die Hälfte jünger als 13 Jahre ist. Sie erzählt lebhaft und lebendig und verbirgt nicht, welche besondere Beanspruchung ihr diese Arbeit mit den Kindern abverlangt.
„Als ich hier vor einigen Jahren anfing“, berichtet Frau Totz, nachdem sie uns im Innern des Hauses Platz angeboten und uns mit Getränken bewirtet hat, „waren hier nur drei Schwestern, die das Dorf bis dahin betreut hatten. Ich war praktisch ganz allein, so allein, daß ich nicht einmal in Telefongespräch führen konnte. Also mußte ich mir erst einmal eine Reihe von Helfern besorgen, – zur Zeit habe ich 25.“ Frau Totz seufzt. „Aber stellen Sie sich vor, was für Schwierigkeiten wir mit den Kindern hatten, als wir sie während der (von der israelischen Armee angeordneten) Schulschließung jeden Vormittag im Dorf beschäftigen mußten! Die Kinder waren kaum noch zu halten…“
Unsere Gesprächspartnerin stockt als sie auf ein Problem zu sprechen kommt, daß der Dorfleitung in den letzten Jahren schwer zu schaffen macht: Das Verhältnis der ausschließlich arabischen Kinder im Dorf zu den israelischen Besatzern.
Alle Kinder des Dorfes gehen in staatliche Schulen, deren Hauptfächer Islamkunde und Arabisch sind. Frau Tutz und ihre Mitarbeiter bemühen sich um Vorträge, die bei der Berufsorientierung ihrer Schützlinge helfen sollen. Einer der Grundsätze des SOS-Kinderdorfes lautet, daß jedes Kind gemäß seiner Begabung gefördert werden soll. Aber das ist in Zeiten des Kriegs nur in den seltensten Fällen möglich. Zum Alltag der Menschen außerhalb des Dorfes gehören Straßenkämpfe und blutige Demonstrationen – eine Welt, von der die Kinder im Dorf durch die Betonwand nur unvollkommen geschützt werden.
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