Von Oliver Wieters
Die Kontroverse um Martin Heidegger und sein Verhältnis zum Nationalsozialismus überschattet die Beispiele vermeintlich „gelungener“ philosophischer Neubestimmungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Tatsächlich gab es auch eine erfolgreiche Gegenposition, wie Helmut Fahrenbach innerhalb der Studium-generale-Ringvorlesung „Philosophie und Politik. Philosophie – Legitimationswissenschaft oder kritische Distanz“ herausarbeitete. Am Beispiel von Karl Jaspers, Karl Poppers, Georg Picht und den Philosophen der Frankfurter Schule zeigte der Tübinger Professor für Philosophie, Spezialist für Existenzialismus, welche Antworten Philosophen auf die Ereignisse dieses Jahrhunderts gefunden haben.
Diese „Gegenlinie zu Heidegger“ – wobei der unmittelbare Bezug auf den Philosophen des Seins nicht zwingend ist – hat demnach eine Bewußtheit gegenwärtiger Philosophie bewirkt oder ermöglicht, die auch für neue Probleme im Felde von Philosophie und Politik sensibilisiert. Diese Erkenntnis gilt besonders für Karl Jaspers, der spätestens nach 1945 einen grundsätzlichen Prozeß der philosophischen Neubesinnung durchgemacht hat.
Obwohl Fahrenbachs Vortrag den ersten, eher historisch ausgerichteten Teil der Ringvorlesung beschloß, wollte er seine Untersuchung auch als einen Beitrag zur Situation heutigen Philosophierens verstanden wissen: „Aus dieser Entwicklung ergeben sich auch Voraussetzungen und Perspektiven für eine heutige Diskussion im Felde von Philosophie und Politik“.
Die Diskussion über Martin Heidegger und dessen Stellung zum Nationalsozialismus stellte Fahrenbach bei diesem Versuch einer Positionsbestimmung von Philosophie nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus ganz bewußt nicht in den Vordergrund. Sondern konzentrierte sich auf das angeblich „leuchtende Beispiel“: Ernst Bloch, der den Verführungen und Verlockungen des Nationalsozialismus gegenüber immer immun gewesen sei. Seine Haltung dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß nur wenige Philosophen am Ende der Weimarer Republik die Gefahr des Nationalsozialismus richtig eingeschätzt hätten. Was die meisten von Martin Heidegger unterscheide, sei ihre Fähigkeit gewesen, nach der Konfrontation mit Praxis und Theorie des erstarkten Nationalsozialismus eine grundsätzliche Überprüfung der eigenen Einstellung zu dem Verhältnis von Politik und Philosophie vorzunehmen. Auf das Verhältnis von Bloch zum Stalinismus ging Fahrenbach in seinem Vortrag leider nicht ein. Ein erstaunliches Versäumnis.
Zu jenen, die anfänglich die Gefahr des Nationalsozialismus nicht gebührend eingeschätzt hätten, gehöre Karl Jaspers. Dennoch habe er für eine nach-faschistische Neubedenkung des Verhältnisses von Philosophie und Politik eine exemplarische Bedeutung gewonnen, da er die vielleicht tiefgreifendsten Konsequenzen aus seinen „Fehlleistungen“ gezogen habe.
Jaspers „liberal-konservativer“ Standpunkt zur Zeit der Weimarer Republik, so Fahrenbach, habe „gänzlich eine Reflexion auf die Bedeutung der Demokratie und ihre Gefährdung vermissen“ lassen. Jaspers abstraktes philosophisches Denken „war gänzlich unbetroffen von der konkreten faktischen Lage von Staat und Politik“.
Erst der Schock des Nationalsozialismus habe Jaspers zur Einsicht gebracht, daß grundsätzliche, existentielle Freiheit – die der Philosoph einst für die grundsätzlichere Freiheit gehalten hatte – nicht zu trennen sei von politischer Freiheit. Diese beiden Freiheiten, ineinander verschränkt, bedingten auch die Existenz einer demokratischen Gesellschaftsform, in der offene Kommunikation möglich sei. Jaspers selbst hat sich dieser demokratischen Herausforderung gestellt und sich in der Folgezeit öffentlich zu politischen und philosophischen Fragestellungen – wie der atomaren Aufrüstung – geäußert.
Jede Philosophie, so Jaspers nun, müsse auf ihre politischen Konsequenzen hin zu befragen sein. Nur eine Philosophie der Vernunft könne totalitärem Denken wirklich widerstehen. Jaspers hat damit laut Fahrenbach sowohl grundsätzliche wie konkrete Konsequenzen aus der Reflexion auf die politische Erfahrung des Nationalsozialismus gezogen.
Eine ähnliche radikale Besinnung haben Karl Popper, aber auch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Ludwig Marcuse durchgemacht, wenn auch in inhaltlich verschiedener Weise. Popper war von einer rein ideengeschichtlichen Kritik des Nationalsozialismus zu einem kritischen Rationalismus gekommen, mit dem er für eine „offene Gesellschaft“ plädierte.
Hier traf sich Popper mit den ansonsten „wesentlich verschiedenen“ Vertretern der Frankfurter Schule, die eine verschärfte kritische Reflexion auf die Stammbegriffe neuzeitlichen bürgerlichen Denkens als Ausgangspunkt einer Vernunft- und Gesellschaftskritik genommen hatten. Während sie die Tatsache zu verarbeiten suchten, daß der Zusammenbruch des Nationalsozialismus nicht zu einer Veränderung sondern eher zu einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Strukturen geführt hatte, die ihrer Meinung nach den Nationalsozialismus hervorgebracht hatten, wendete sich Popper der demokratischen und offenen Gesellschaft zu, die dem Totalitarismus entgegenstehen sollte. Ähnliches galt auch für Georg Picht.
Fahrenbach faßte zusammen: „Die Erfahrungen des Nationalsozialismus sind auf der hier verfolgten Linie (im Gegensatz zu Heidegger) nicht nur nicht verdrängt worden, sondern ihre Reflexion hat zum Teil wesentliche Änderungen im philosophischen Selbstverständnis hervorgebracht. Das gilt besonders für Jaspers.“ Mit dem neu-definierten Vernunftbegriff sei die Forderung nach einer kommunikativen Form gesellschaftlichen und philosophischen Seins erhoben worden; der nicht-restriktive Demokratiebegriff sei dabei als unverzichtbar hervorgetreten und: der praktischen Philosophie wurde eindeutig der Vorrang vor der abstrakten philosophischen Reflexion, was das Verhältnis Politik und Philosophie angeht, zugewiesen. „Die Reflexion der Erfahrungen des Nationalsozialismus hat eine politische Bewußtheit ermöglicht, eine Sensibilität im Felde von Philosophie und Politik, die auch für die heutige Problemlage hilfreich ist.“
Zuerst veröffentlicht in Südwest-Presse / Schwäbisches Tagblatt 1989.