Thema Armenien
Vor einer Ewigkeit habe ich einen Artikel über Erinnerung geschrieben, in dem es auch um Armenien und den Genozid geht. Hier ein Ausschnitt. Wer hätte damals gedacht, dass es 100 Jahre dauert, bis der Begriff des Genozids an den Armeniern in Deutschland offiziell anerkannt wird?
Dem Garmir Tschart, dem “roten Massaker”, wie die Armenier den Völkermord (armenisch aghed) nennen, steht der Dschermag Tschart, das “weiße Massaker”, die Gefahr des Vergessens gegenüber.
„Erinnern angesichts von Genozid und Diaspora
Von Oliver Wieters (1994)
Der Völkermord an den Armeniern, dem 1915 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen (die Schätzungen schwanken hier erheblich), ist eine in Deutschland aus den verschiedensten Gründen vernachlässigte Erfahrung. Allerdings betrifft das Verdrängen der Erinnerung an den Genozid auch die innere Welt der Überlebenden: Dem Garmir Tschart, dem “roten Massaker”, wie die Armenier den Völkermord (armenisch aghed) nennen, steht der Dschermag Tschart, das “weiße Massaker”, die Gefahr des Vergessens gegenüber. Dabei handelt es sich auch um eine interne Gefahr: So nimmt die Republik Armenien – entgegen der Diaspora, für die der Völkermord die verbindende Erinnerung ist – den Genozid aus ihrer innen- und außenpoltischen Selbstdefinition heraus, weil sie dem nationalen Selbstverständnis nicht entspricht.
Mihran Dabag vom Bochumer Institut für Armenische Studien stellte in seinem Vortrag über Katastrophe und Identität: Das Erinnern der Verfolgung der armenischen Gemeinschaft die Frage nach der identifikativen Kontinuitätssicherung angesichts von Genozid und Diaspora (armenisch karuth). Den Begriffen der Tradition und Geschichte konfrontierte er zu diesem Zweck modellhaft mit der Kategorie der Erinnerung. Diese Gegenüberstellungen entsprechen im wesentlichen der Unterscheidung von “bewohntem” und “unbewohntem” Gedächtnis, die Aleida Assmann8 vorgenommen hat. Ersteres ist wertvermittelnd und steht in einem lebensweltlichen Kohärenzzusammenhang; letzeres ist statisch, wertselektiv und von seinem Träger losgelöst. Demnach gründet sich Tradition auf dem Anspruch nach Autorität, die auch für die Zukunft Gültigkeit beansprucht, während Geschichte keine Normen bereithält, sondern einen Interpretationsvorschlag unterbreitet.
Die Identitätssicherung in der Diaspora umfaßt, so Dabag, sowohl traditionelle wie geschichtliche Elemente. Doch die Armenier haben auch eine dritte Form der Kontinuitätssicherung, und das ist die Erinnerungs-Kontinuität. Die Bindung an die Erinnerung ist entgegen Tradition und Geschichte dynamisch und erfüllt sich erst durch das Erinnertwerden. Dies geschieht besonders in den Medien der Schrift, des Bildes und der Erzählung. Sie ist nicht zukunftsorientiert, sondern eine kontinuitätsgewährende Rückbindung, die ihre Gültigkeit aus der situativen Rekonstruktion ableitet. Ein weiterer Vorteil gegenüber Tradition und Geschichte ist, daß sie die Sinndeutung bis zum Moment des Erinnerns offenlasse. So übernimmt sie in der Diaspora-Gemeinschaft zwar die Aufgabe der Konstruktion von Zugehörigkeit, beinhaltet aber eine “höhere Freigabe für das Individuum”. Denn die Erinnerung integriert neue Erfahrungen in die Überlieferung und verändert so auch das Lebensschema. Sie stellt damit eine erfolgsversprechendere Überlebensstrategie dar.“